Die Aktion Nr. 218 – Israel / Palästina

Originalveröffentlichung
Ausgabe IV/2009, 28.Jahrgang
Broschur, 128 Seiten, illustriert

Erschienen Juni 2010

978-3-89401-609-8

10,00 

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Kamera-Auge
Glossen | Kritik | Szenen | Mails & Briefe
John Holloway: Wir sind die Krise des Kapitals
Michael Kleff: Brief aus New York: »Mein Leben aus seiner Hand«
Gabriel Kuhn: Brief aus Melbourne: »John ›Chummy‹ Flemming«
Thorwald Proll: Afghanistan
Manfred Ach: Briefkasten für Persönlichkeitsbildung (IV)
Bert ***: »Wir Dinosaurier – von der Mittelschicht zu den ›working poor‹«.

Artikel | Prosa | Berichte
Olaf Arndt:
Krise. Ein Brevier für schwierige Lagen. Zweiter Teil: Labyrinth und Lager. Zur Gegenwart eines Urbildes in Zeiten der Krise
Horizont: Israel-Palästina (I). Gesichter
Abdallah Laroui: Israel-Palästina. Ein Problem Europas
Horizont: Israel-Palästina (II). Betrachtungen
Ilya U. Topper: Gottes Pioniere
Horizont: Israel-Palästina (III). Beispiele
Uri Gordon: Heimatland?
Horizont: Israel-Palästina (IV). Ansichten
Brian Klug: Was es bedeutet zu sagen, Israel habe ein Existenzrecht
Sean McGuffin: Die Plünderung von Baltimore. Ein Filmskript
Jörg Auberg: Kostümfest des Grauens. Die Rackets und das Argument

Buchinfos

Ausgabe IV/2009, 28.Jahrgang, Broschur, 128 Seiten, illustriert

Leseprobe

Auszug aus den »Capriccios« des Herausgebers

Den Hauptteil dieses Heftes nimmt das Thema Israel / Palästina ein, dieser Themenblock sollte als Dokumentation verstanden werden. Da der »Konflikt« nicht besonders neu ist, weisen die Vorstellungen, worin er besteht, welche Position ein Außenstehender einnehmen kann, und wie das Drama zu beenden wäre, ebenfalls keine im Laufe der Jahre ungehörte Neuigkeit auf. Es trifft mithin auf das hier Vorgestellte zu, was bereits Ernst Bloch bei anderer Gelegenheit schrieb: »Alles Gescheite mag schon siebenmal gedacht worden sein. Aber wenn es wieder gedacht wurde, war es nicht mehr dasselbe.« Und auch, was der muslimische Arzt und Philosoph Avicenna (arabisch: Ibn Sina) sagte: »Jedes Ding, das neu entsteht, hat vor seinem Werden in sich die stoffliche Möglichkeit zu existieren, oder es ist unmöglich.« Der Ehrgeiz dieses Heftes ist es nicht, »recht« zu haben, sondern zu zeigen, was möglich ist und dass der »Konflikt« keineswegs unverstehbar ist, noch dass es keine Lösung für ihn gäbe.

Unmöglich ist es allerdings für den Herausgeber einer Zeitschrift wie Die Aktion, die eigenen Motive nicht deutlich auszusprechen, die die intellektuelle Position ausmachen und die Auswahl der Beiträge geleitet haben.
Als libertärer Sozialist war es mir in den letzten Jahrzehnten unmöglich, in die nationalen Befreiungsbewegungen im Trikont und in die davon abgeleitete antiimperialistische Sichtweise größeres Zutrauen zu haben. Einzig die soziale Bewegung, die sich autonom und selbstständig versteht, die weder Ambitionen in den Staat der Gegenwart noch in den der Zukunft hat, ist es wert, ihr Engagement und Leidenschaft entgegenzubringen. Von daher genossen weder die palästinensische Nationalbewegung, der Panarabismus noch der Zionismus meine Sympathie oder gar Zuneigung. In allen ist dieselbe beschränkte Ideologie bestimmend, die letztendlich der Hegemonie der besitzenden Klassen zugute kommt, für die der Nationalismus den idealen geistigen Horizont abgibt, weil er ihren ökonomischen Interessen, sozialen Status und Machtambitionen Festigkeit gibt. Auch wenn diese Bewegungen im Trikont Anleihen beim Sozialismus genommen haben (genauso wie sie den religiösen Obskurantismus integrieren), dominiert und erstickt der Nationalismus im Konfliktfall die Sehnsucht der Proletarisierten nach sozialer Emanzipation – diese kritische Distanz zum »Nationalen-Pathos« ist eine historische Erfahrung, keinesfalls ein bornierter linksradikaler Purismus.

Immer hat mir deshalb die Formel vom »vereinigten, unabhängigen und sozialistischen Palästina«, wie sie etwa von der israelischen Mazpen-Gruppe vertreten wurde, eingeleuchtet, 1969, als ich dies in einem Artikel über den »Nahost-Konflikt« las, wie heute noch, auch wenn die Gegenwart weniger historischen Überschuss aufweist, als in jenen offenen Jahren vorhanden war, und eher eine bescheidenere Zwischenlösung nahe liegt, die der Zwei-Staaten-Etappen-Lösung mit einer Union beider Teile Palästinas (siehe dazu Avneri in diesem Heft, der diese ausgleichende Perspektive bereits 1947, vor der israelischen Staatsgründung, vorschlug). Nun gut, wenn kein sozialistisches Gemeinwesen, dann eben eines, das den latenten Krieg beendet und es Israelis und Palästinensern ermöglicht, das Würgeeisen aus Hass, Nationalismus, rassistischen Ressentiments und Militarismus loszuwerden, um eine neue gemeinsame Perspektive zu eröffnen, die ohne Zweifel ganz Palästina umfassen wird.

Ein Ende des permanenten Kriegszustands hieße, abzuschließen mit der in ideologischen Bildern der Geschichte stillgestellten Gegenwart: Abschied von der Bibel als Grundbuch für die Besitzansprüche auf Palästina, vom zionistischen Gründungsmythos Israels, einem Siedler-Kolonialismus, der ein leeres Land vorfand und als Vorposten Europas zivilisierte; es bedeutete ein Ende von Besetzung, Siedlungspolitik und Diskriminierung der palästinensischen Israelis. Es hieße auch die Rückkehr der seit 1947 vertriebenen Palästinenser. Für die Palästinenser hieße es, die jüdischen Israelis als gleichberechtigte hebräische Nation anzuerkennen, als ein neues Element in der arabischen Welt.

Das ist die Horizontlinie, unter der das Thema von dieser Zeitschrift angegangen wird. Jetzt noch eine kleine Anmerkung zur Oberfläche, in der die Frage Israel / Palästina zum Verschwinden gebracht wird, bis die Ereignisse, wie zuletzt der Gaza-Kriegszug, oder jüngst die Kaperung der Solidaritäts-Schiffe, sie mit Wucht wieder in das öffentliche Bewusstsein zurückbringen.

Es ist empörend, mit welcher Selbstverständlichkeit die Lage der Palästinenser aus der Wahrnehmung ausgeblendet ist, so, als wären sie kollektiv durch eine Falltür aus der Geschichte gefallen; und ebenso die Suggestion, eine Kritik der Regierungspolitik Israels, das Erinnern an die Vertreibung von 700.000 Palästinensern, die erniedrigende Behandlung in den besetzten Gebieten und dergleichen würde einem versteckten Antisemitismus entspringen. Die so inszenierte Immunisierung eines Staates, seiner politischen Klasse und deren Handlungen zeugt von Verachtung für die intellektuelle Wahrhaftigkeit. Denn den beleidigenden Anwurf des Judenhasses, den die »Freunde Israels« so inflationär austeilen, begründen sie mit der Moralität, die nach der Shoa dem israelischen Staat zukäme. Aber weder macht Leid einen Menschen automatisch besser, noch sind Staaten moralische Einrichtungen, noch ist das Opfer ein Handelsgut.

Dass in Deutschland Scham die Haltung zu Israel beeinflusst, ist nach den Verbrechen der Nazi-Diktatur eine menschliche Reaktion. Die hellhörige Umnachtung aber, die diese Verstörung angenommen hat, neutralisiert die moralische Empathie und stützt die ritualisierte Rhetorik von »Versöhnung« und einer »besonderen Verantwortung deutscher Politik für Israel«, Formeln, die halfen, die Selbstentlastung der deutschen Eliten, nebst ihrer Mitläufer, zu begründen und dazu dienten, antisemitische Massenmörder in transatlantische Philosemiten zu verwandeln. Dass auf Basis dieser Staatsdoktrin Deutschland wieder kriegsfähig geworden ist und im nordatlantischen Geleitzug an imperialen Missionen teilnimmt, zeigt, worum es bei dem Schweigegebot, der freiwilligen Blindheit und einer selektiven Ethik geht. Dem gilt es zu widerstehen.

Der Philosoph und Linsenschleifer Baruch de Spinoza, der wegen seiner Ideen von den Rabbinern der Amsterdamer Synagoge gebannt und von den Calvinisten als Atheist angegriffen wurde, dieser freiheitliche Dissident und jüdische Humanist schreibt in seiner Ethica: »Es gibt in der Natur nichts, wovon man sagen könnte, es gehöre diesem Menschen und nicht jenen, sondern alles gehört allen.«

Und an anderer Stelle: »Für den Menschen ist nichts nützlicher als der Mensch, und nichts Vorzüglicheres, behaupte ich, vermögen die Menschen zur Erhaltung ihres Seins sich zu wünschen, dass alle in allem derart übereinstimmen, dass alle Geister und Körper zusammen gleichsam einen einzigen Geist und einen einzigen Körper bildeten und alle zumal, so viel als möglich, ihr Sein zu erhalten streben und alle zumal den gemeinsamen Nutzen aller für sich suchten.« Er fordert die »multitudo«, die freie menschliche Assoziation: »Nichts für sich verlangen, was sie nicht auch für die übrigen Menschen fordern.«