Seit dem ersten Verlagsprogramm 1973 und der offiziellen Verlagsgründung 1974 (Gewerbeanmeldung) hat die Edition Nautilus fast 1000 Titel publiziert, davon sind derzeit noch etwa 300 lieferbar. Es erschienen 63 Bände der Kleinen Bücherei für Hand und Kopf, 14 Bände der Franz-Jung-Werkausgabe, 19 Bände der Krimireihe Kaliber .64, 31 Nummern der Revolte! und stolze 220 Nummern der Aktion (in 80 Ausgaben) sowie, »same procedure as every year«, sieben Variationen von Dinner for One in Buchform.
Lutz Schulenburg in Plau am See, April 2013 © KP Flügel
Das 40. Jubiläum 2014 stand im Schatten des Todes des Verlegers: Lutz Schulenburg war am 1. Mai 2013 nach kurzer schwerer Krankheit wenige Tage nach seinem 60. Geburtstag unerwartet gestorben. Nahezu vierzig Jahre lang war er als Verleger der Edition Nautilus eine feste, wenn auch subversive Größe in der Verlagswelt. Er fehlt uns. Doch die verbleibende Crew steuert die Nautilus nun ohne ihn durch bewegte Gewässer und arbeitet in seinem Geist weiter, der auch der unsere ist!
Über ihr politisches Engagement waren Hanna Mittelstädt, Lutz Schulenburg und Pierre Gallissaires 1972 mehr zufällig als absichtsvoll in die Verlegerei hineingerutscht: zunächst durch die Herausgabe der Zeitschrift MAD und später der Revolte (digitalisierte Ausgaben nachzulesen auf: www.mao-projekt.de) und diverser Flugschriften unter dem Label »MAD-Verlag, Materialien, Analysen, Dokumente«, der sich nach einer Klage des gleichnamigen Satireblatts in Edition Nautilus umbenannte.
»Ein Gedicht kann genauso revolutionär sein wie ein theoretischer Text.« Getreu dieser Devise wurden neben Schriften der Anarchisten und Situationisten auch solche der Dadaisten und Surrealisten veröffentlicht. Bald fanden auch die ersten Autobiografien, u.a. von Jacques Mesrine, Charles Mingus, Billie Holiday und Franz Jung, sowie unerschrockene Prosa junger Autoren wie Franz Dobler, Ingvar Ambjørnsen, Anna Rheinsberg und Sean McGuffin Eingang ins Programm.
Parallel dazu wurde die Werkausgabe von Franz Jung in Angriff genommen und 1997, nach 16 Jahren und 14 Bänden, vollendet. Diese förderungsfreie Edition ging sehr zu Lasten der Verlagsökonomie aus, die in der Edition Nautilus stets um einige wenige Verkaufserfolge herum organisiert werden muss, etliche Jahre lang etwa um den zweisprachigen Silvester-Dauerbrenner Dinner for one. Nicht ganz so erfolgreich, aber ebenso unverzichtbar war Die Aktion, eine der letzten streitbaren Zeitschriften für Politik, Literatur und Kunst, die wir aber mit der letzten Hommage-Ausgabe für Lutz Schulenburg im September 2013 eingestellt haben.
Als »gut gelaunt und ein bisschen anarchistisch« charakterisierte der Reporter des Bergedorfer Wochenblatts das Verlagskollektiv, das nach der Veröffentlichung dreier Bücher von Karl-Eduard von Schnitzler plötzlich auch der Lokalpresse ein Porträt wert war. Diese absichtsvolle programmatische Grenzverletzung, keineswegs die erste im Lauf der Verlagsgeschichte, ermöglichte u.a. die Herausgabe von Abel Paz’ großer Durruti-Biografie.
Ein erfreulich zahlreiches Lesepublikum eroberten auch die Bücher von Wiglaf Droste, Subcomandante Marcos, Paco Ignacio Taibo II, vor allem seine Che-Guevara-Biografie, sowie einige Titel aus der Kleinen Bücherei für Hand und Kopf, inzwischen auf 60 Bände angewachsen, etwa die Grotesken von Kurt Schwitters oder die Aphorismen von Francis Picabia. Dessen Aphorismus »Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann« gibt nach wie vor ein zuverlässiges Verlagsmotto ab.
Im neuen Jahrtausend konnte das Nautilus-Programm die Folge der »Roten Ziegel« um weitere Kompendien der Basisbewegungen erweitern: etwa um den berühmten Wälzer von Horst Stowasser, Anarchie!, eine überarbeitete Neuausgabe der Autobiografie von Emma Goldman, Gelebtes Leben, ein Handbuch zur Direkten Aktion von David Graeber oder das 600-Seiten-Werk Schwarze Flamme von Lucien van der Walt und Michael Schmidt. Mit Michael Warschawski, Mahmood Mamdani, Eyal Weizman oder Gilbert Achcar holte die Edition Nautilus hochkarätige internationale Kritiker an Bord. Beiträge zur Zeitgeschichte der BRD liefern u.a. die Zeugnisse ehemaliger Protagonisten des bewaffneten Kampfes: Karl-Heinz Dellwo, Inge Viett, Gabriele Rollnik.
Die Krimisparte des Programms wurde einst begründet mit der ›Schwarzen Trilogie‹ Léo Malets und dann durch Ingvar Ambjørnsen, Robert Brack und viele weitere fortgesetzt. Ein Krimi war es auch, der dem Verlag dann seinen zahlenmäßig bisher größten Erfolg einbrachte.
Eines Tages bot Andrea Maria Schenkel ihr Manuskript »Tannöd« zur Publikation an. Der Krimi überzeugte das Verlagsteam, wurde kostendeckend kalkuliert und erschien im Februar 2006 in einer Auflage von 2800 Exemplaren. Das Risiko sollte gering bleiben, schließlich hatte noch nie jemand etwas von der Autorin gehört. Das sollte sich schnell ändern. Das Krimidebüt von Andrea Maria Schenkel zog weite Kreise, und ein Jahr nach der Veröffentlichung landete es auf der Spiegel-Bestsellerliste, wo es wochenlang Platz 1 besetzte, bis ihr zweiter Krimi, »Kalteis«, ihn auf Platz 2 verdrängte. Für beide Krimis wurde sie mehrfach ausgezeichnet, und »Tannöd« wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt.
Durch diesen fast märchenhaften Erfolg konnte das inzwischen gewachsene Verlagsteam aus den drei Büroräumen über einer Einkaufspassage in der Bergedorfer Fußgängerzone in ein ehemaliges Fabrikgebäude in Hamburg-Bahrenfeld ziehen. Hier werden jetzt Romane von Autor*innen wie Shumona Sinha, Jochen Schimmang und Isabel Fargo Cole verlegt – letztere wurde mit ihrem Debütroman Die grüne Grenze über das Leben im Sperrgebiet der DDR im Harz für den Preis der Leipziger Buchmesse 2018 nominiert. Die Flugschriftenreihe widmet sich aktuellen gesellschaftspolitischen Themen wie der Digitalisierung, dem Feminismus oder dem Urbanismus – mit Autor*innen wie Timo Daum, Laurie Penny, Jack Urwin, Mithu M. Sanyal, dem Unsichtbaren Komitee, Hans-Christian Dany und Niels Boeing.
In unserem kriminalliterarischen Programm sind wir stolz auf spannende und politische Werke deutschsprachiger und internationaler Autoren wie Matthias Wittekindt, Robert Brack, Jérôme Leroy und Declan Burke, die mit zahlreichen Krimipreisen bedacht wurden.
Im Jahr 2016 haben wir mit den Utopien für Hand und Kopf eine ambitionierte bibliophile Reihe ins Leben gerufen, in der wir utopische Texte aus verschiedenen Zeiten und Kontexten verlegen: aufwändig und individuell gestaltet und illustriert, sind sie Fenster in andere Vorstellungswelten und verführen zu Reisen über den eigenen Horizont hinaus. Es erschienen Werke von William Morris, Martin Luther King, Oscar Wilde und Charles Fourier sowie ein tiefrotes Album über die Utopie(n) des Jahres 1968.
Bei der Verleihung des Karl-Heinz Zillmer-Verlegerpreises 2018 © Michaela Kuhn
Im Jahr 2004 wurde der Edition Nautilus der Kurt-Wolff-Preis verliehen. Sie wurde damit für ihr anspruchsvolles literarisches Programm, für ihre Künstlerbiografien und die Herausgabe der Franz-Jung-Werke geehrt. Der Verlag erhielt für sein außergewöhnliches Programm außerdem 1993 und 2002 den Verlagspreis der Freien und Hansestadt Hamburg sowie 2018 den Karl-Heinz Zillmer-Verlegerpreis. 2019 und 2020 wurde die Edition Nautilus mit dem Deutschen Verlagspreis ausgezeichnet, verliehen von der Kulturstaatsministerin.
2016 übergab Hanna Mittelstädt den Verlag an ihre fünfköpfige Crew, die die Edition Nautilus nun kollektiv und in der Rechtsform einer GmbH weiterführt.