Figuren und Figurationen

Über Malerei und mich selbst

Kleine Bücherei für Hand und Kopf – Band 49
Originalveröffentlichung
Klappenbroschur, 128 Seiten, illustriert

ISBN 978-3-89401-342-4

Hans Platschek hat als Maler, Essayist und Kritiker auf vielfältige Weise das künstlerische Schaffen gestaltet und kommentiert. Ob als junger mittelloser Emigrant in Montevideo 1942 oder als international renommierter Künstler heute, stets ist das Nachdenken über das Wesen der Malerei für ihn ein Selbstverständnis. Vehement wendet sich Hans Platschek gegen das Ausblenden des Künstlers aus dem Prozess des Machens. Die bildnerische Phantasie, die ein unbegrenztes Abenteuer ist, steht gegen die Ansprüche des Kunstmarktes, die Smart Art oder den eindimensionalen politischen Realismus. Der Blick des Malers auf die Farbe, die Figuration, die Fläche, den Arbeitsprozeß, die Kunstgeschichte bestimmen diese biographisch-reflexiven Texte, die dem Leser auf anschauliche Weise die ästhetische und menschliche Erfahrung eines Künstlers im 20. Jahrhundert vermitteln.

Was ist ein Bild? Was ist die Kunst? Ein Querschnitt aus kunsttheoretischen Essays, Interviews und Selbstdarstellungen über die Lust des künstlerischen Individuums am Malvorgang.

»Dieser Künstler ist noch dazu ein klarer Geist, ein intelligenter Schriftsteller voller Witz und Schärfe, ein gnadenloser Sezierer mit Worten …« Jens Christian Jensen

Buchinfos

Originalveröffentlichung Klappenbroschur, 128 Seiten, illustriert

Autor

Hans Platschek, geboren 1923 in Berlin, 1939 Emigration nach Südamerika. 1953 Rückkehr nach Europa mit wechselnden Stationen in München, Rom, London, Tanger. Von 1955 bis 1963 lebte er in München, wo er 1957 die erste von zahlreichen Ausstellungen in der Galerie van der Loo hatte. München war in der Zeit auch Schauplatz einer neuen Kunstgruppe, S.P.U.R., deren Mitglieder Platschek mit dem Informel und den Arbeiten der Gruppe Cobra bekannt machte, auch mit Asger Jorn selbst. 1958 nahm Platschek an der XXIX. Biennale in Venedig teil, im Jahr darauf an der II.documenta in Kassel und an der 5. Biennale in Sao Paulo. Seine Bilder werden in zahlreichen Museen in Europa und Amerika gesammelt. In den 6oer Jahren kehre er schließlich nach Hamburg zurück. Er starb im Jahr 2000.

Leseprobe

Bilder sind keine Quittungen

Wir müssen uns darüber einig sein, daß es sich nicht um die Konterfeis umrissener Dinge handelt, man keine Frau am Fenster, kein Stilleben mit Tonpfeife darstellen kann, einfach deshalb, weil die Dinge selbst, als Symbol und als Träger von Wirklichkeiten, austauschbar geworden sind. Ich kann mich andererseits damit abfinden, meine Leinwand lackrot anzustreichen, womöglich auch ein paar Striche hinzuzufügen: das wäre ein abstraktes Bild, hilflos und hermetisch; meiner Erfahrungsnotwendigkeit entspricht es nicht. Stelle ich aber diese Abstraktion in Frage, so kann es geschehen, daß auf der Leinwand eine mögliche Figur erscheint, die sich gleich wieder vor meinen Augen verabschiedet, falls ich sie nicht festhalte. Mir liegt nun daran, dieses Gebilde zu fixieren. Ich kann ihm einen Namen geben: Porträt eines Trotzkisten, Sitzende Frau, Zugang zum Holz. In seiner unbotmäßigen Dinglichkeit jedoch stellt es seinerseits das Ding, das es zitiert, infrage. Ich fische also nach einem Gegenstandsschatten, nach einem Phantom. Folgerichtig kann ich aber auch ein Gesicht oder ein Skelett in das Bild tragen, wobei ich voraussetze, daß dieser Kopf und dieser schmächtige Torso nichts anderes sind als Materialien, wie das Blau oder das Titanweiß, das ich benutze. Warum diese figürlichen Grenzbilder? Die frühe informelle Malerei ist in ihrer ganzen Wirksamkeit unwiederholbar. Genauso unwiederholbar können die Figuren werden, die man aus dem Material zieht oder ins Material hineinträgt. Gewiß, optische Vorlagen halten nicht mehr stand, prüft man sie auf ihre Wirklichkeit, aber es ist abenteuerlich genug, diesen Vorlagen ihre Wirklichkeit zu entziehen und ihre Körper auszutauschen. Mag sein, daß eben dadurch jene Dinge gegenwärtig werden, die wir tagsüber vermissen.

Wüßte ich, warum ich eine leere Leinwand angehe, ich gewöhnte es mir so rasch wie möglich ab. Malerische Anlässe sind heute ohne Belang. Man handelt ganz und gar absichtslos, wenn man eine Leinwand erst einmal mit Farben zudeckt. Ich mag nur nicht, daß aus diesem zweckfreien Handeln, dem Grundzug heutiger Kunst, ein Mythos entsteht. Zwar stimmt es, daß die Leinwand zunächst Rohmaterialien in Anspruch nimmt, Chiffren und Zeichen, die sich häufen, paaren und unversehens verschwinden, wenn eine Lache Terpentin über Lack- und Ölflächen läuft. Doch das ist nur ein Teil der Arbeit. Wanderungen von Farbstücken, Strichresten und zerfressenen Rändern, deren Ziel lange in der Schwebe bleibt. Warum? Nicht aus Prinzip oder weil der Maler körperliche Bewegung braucht, obwohl Prinzipien und Körperkultur heute gut angeschrieben sind. Der Grund ist ein anderer: je länger das Bild ein Aquarium ungehorsamer Reptilien darstellt, um so überraschender kann ich in diese Flüssigkeit neue Wesen einführen oder den Gebilden, welche die Leinwand vorschlägt, die Züge geben, nach denen sie verlangen. Oft füge ich ein Detail ins Bild, das als Imago mich eine Zeitlang beschäftigt hat. Oft lösche ich Formen aus, die zu unumwunden einen Gegenstand bezeichnen wollen. Der andere Teil der Arbeit besteht darin, das Gebilde aus dem Material herauszulösen. Die Leinwand ist ein Gegenüber, das weder durch Additionen noch Subtraktionen zum Bild wird: sie stellt Forderungen, die ich zu stören versuche, sie absorbiert Zeichen, die ich vorschlage, oder lehnt sie ab.
Wie steht es aber mit den Anregungen, die andere Maler, moderne Dichtung oder die sichtbare Wirklichkeit geben? Andere Maler: jener verblüffende Engel auf Tintorettos Miracolo di San Marco, der buchstäblich aus den Wolken fällt, kopfüber in einen Raum, der doch wie eine Schaubühne hinten abgeschlossen ist. Mir liegt eine solche Verkürzung nicht, aber warum nicht einmal die Diagonale kappen, wie das Bild es vorführt? Oder Cranach, die Venus im Frankfurter Städel, deren schmaler, lasziv konturierter Körper mit Ketten, Halsband und einem Gazeschleier perforiert ist: so könnte man auch imaginäre Einzelheiten in eine Figuration stechen. Picassos Frau, den Kopf stützend aus dem Jahre 1937, etwas zu farbig vielleicht, aber wenn man die Gestalt umstülpt? Oder Champigny von Wols, rote, schwarze und eingekratzte Gräten auf blauem Grund: und wenn das ein Fisch wäre? Das sind nur Beispiele, ebenso wie ein paar moderne Verse, die in die Leinwand dringen können: Nerudas Walking around, Ginsbergs Ode an Walt Whitman oder ein Satz von Michaux: »J’ai lavé le visage de ton avenir.« Die Beispiele können wechseln. Merkwürdig überdies, daß mich Prosa oft unmittelbar packt und beim Malen mir zuweilen ganze Situationen in den Sinn kommen: der Anfang von Millers Steinbock, Célines haarsträubendes Dämmerleben in den Kolonien aus der Reise ans Ende der Nacht, Gombrowicz, wie er sich bald zustimmend, bald ablehnend im Hafen von Buenos Aires verliert, Babels weinselige Maupassant-Geschichte: Die Realität der Welt indes äußert sich allein in Bruchstücken: eine Kleidung, die jemand sich zu tragen schämt, der Rolls Royce Silver Ghost, der im Mai 1907 400 Meilen von London nach Schottland gefahren wurde, der Elefant in der Wuppertaler Seilbahn oder schlichtweg die Köpfe Kuno Raebers, Dr. Rohs und Emilio Vedovas.
Ich stelle Bilder her. Außenwelt, innere Welt, neue Wirklichkeiten; das sind Rechtfertigungen. Nichts läßt sich rechtfertigen, solange ich in diesen Bildern etwas noch so Bruchstückhaftes fixieren und in die Welt stellen kann. Ob Leitsatz oder nicht: Bilder sind keine Quittungen, und wenn etwas Erlebnis in ihnen zutage tritt, nur deshalb, weil es zu einer Fiktion, zu einer gefrorenen Vorstellung geworden ist.