Wär mein Klavier doch ein Pferd

Erzählungen aus den Niederlanden

Nachwort von Doris Hermanns

Deutsch von Bettina Bach,
Helga van Beuningen, Anna Carstens,
Doris Hermanns, Andrea Kluitmann
und Christiane Kuby

Originalveröffentlichung
Gebunden, 200 Seiten

Erschienen Februar 2016

19,90 

Niederländische Erzählkunst aus weiblicher Feder!

Lakonisch, direkt, mit einem klaren Blick für die Absurditäten des Lebens erzählen die Autorinnen aus dem Land an der Nordsee. Knapp und eigenwillig, aus oft schräger Perspektive richten sie den Blick auf das Persönliche, das immer auch geprägt ist durch die Historie: die nationalsozialistische Besatzungszeit und deren Nachbeben etwa oder das Verhältnis zu den ehemaligen Kolonien in Südostasien. Im Zentrum ihrer Geschichten stehen Schlüsselmomente der Kindheit, Brüche und Weichenstellungen im Erwachsenenleben, Dramen, die an den Grundfesten des Daseins rütteln.

Die Nahaufnahmen aus über hundert Jahren niederländischer  Literatur beleuchten höchst unterschiedliche Situationen – manchmal alltägliche, manchmal skurril-komische, manchmal tragische  Momente – und haben doch einen gemeinsamen Tenor: Sie alle loten auf ihre Weise die Grenze zwischen dem Ich und der Außenwelt aus und fragen, wo die Wahrung des Eigenen in Intoleranz mündet. Das Bild, das sie dazu von unserem Nachbarland, den Niederlanden, zeichnen, ist uns vielleicht ähnlicher, als man auf den ersten Blick vermuten mag.

Buchinfos

Gebunden, 200 Seiten

Zu den Autorinnen

14 Autorinnen aus 100 Jahren

Maria Dermoût (1888 – 1962)

Josepha Mendels (1902 – 1995)

Elisabeth Augustin (1903 – 2001)

Annie M. G. Schmidt (1911 – 1995)

Marga Minco (* 1920)

Helga Ruebsamen (* 1934)

Margriet de Moor (* 1941)

Ellen Ombre (* 1948)

Jill Stolk (* 1952)

Anneloes Timmerije (* 1955)

Manon Uphoff (* 1962)

Sanneke van Hassel (* 1971)

Esther Gerritsen (* 1972)

Maartje Wortel (* 1982)

Pressestimmen

»Ein gelungener und anspruchsvoller Einstieg in die von Frauen geschriebenniederländische Literatur, der zum Weiterlesen animiert.«
Aviva Berlin

Leseprobe

Im Sommer 1925 oder vielleicht 1926 fiel der Katechismusunterricht aus, weil Linda ein paar Monate in England war. Doch eines sonnigen Mittwochs im September stand sie wieder bei uns vor der Tür. Meine Mutter machte auf und lachte gleich los. »Entschuldige, Linda«, sagte sie. »Ich lache dich nicht aus. Es ist bloß … Nun ja, du hast dich ziemlich verändert.«

Das stimmte. Sie hatte wieder eine Pralinenschachtel dabei, aber wo war der Chignon geblieben? Der Chignon war weg. Das goldblonde Haar kurz geschnitten. Ihr Kleid ärmellos und ohne Taille, sehr kurz, bis ans Knie, und darunter fleischfarbene Strümpfe. So etwas hatten wir noch nie gesehen, nur auf Fotos. Es war neu. Linda war eine Vorläuferin der sexuellen Revolution.

Sie stieg die Treppe zum Studierzimmer hinauf, wo mein Vater sie erwartete. Als ich eine halbe Stunde später mit Tee und Keksen eintrat, erklärte er ihr gerade das Buch Hiob. Er sprach mit leicht stockender Stimme, und als ich den Tee vor ihn stellte, blickte er beschämt und schuldbewusst auf. Ihm gegenüber saß Linda, die fleischfarbenen Beine übereinandergeschlagen. Bildschöne, berauschende Beine. Ich ließ die beiden allein und ging wieder hinunter.

»Was tun sie?«, fragte meine Mutter.

»Nichts. Wie immer. Sie sprechen über Hiob.«

Mutter lachte schallend.

(aus »Linda« von Annie M. G. Schmidt)