Zwischen Verzweiflung und Widerstand

Indische Stimmen gegen die Globalisierung

Originalveröffentlichung
Broschur, 160 Seiten

ISBN 978-3-89401-490-2

Mit einer Vielfalt an Stimmen wird die »Globalisierung von unten« erzählt. Die Betroffenen selbst sprechen über Widerstandsformen der Kleinbauern gegen Agrobusiness; Selbstversorgung gegen Exportorientierung, radikale Nachhaltigkeit gegen Biotechnologie, ökologische Vielfalt gegen Genmanipulation.
Es kommen Vertreter der Fischer und des Frauenrates, der »Unberührbaren«, der Studenten und Teilnehmer der internationalen Sozialforen zu Wort sowie der Naxaliten und Kommunisten.
Selbstbewusst gehen die Widerständler mit dem eigenen Wissen und der eigenen Tradition, aber auch mit der internationalen Vernetzung um. Lebendig und anschaulich wird der Leser in die verschiedenen Probleme und Anliegen eingeführt. Der Herausgeber war vor Ort und hat die verschiedenen Interviews fundiert zusammengestellt.
Indien wird als aktiver Teil der globalen Weltwirtschaft sichtbar – von oben wie von unten.

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Inhaltsverzeichnis

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Einleitung

Buchinfos

Originalveröffentlichung Broschur, 160 Seiten

Autor

Gerhard Klas

Gerhard Klas

Gerhard Klas ist Mitglied im Kollektiv des Rheinischen JournalistInnenbüros in Köln. Seit 1996 veröffentlicht er in Zeitungen, Fachzeitschriften und Hörfunk über die Globalisierung, ihre Kritiker und Gegenbewegungen in Europa und der Dritten Welt. Veröffentlichung zu Indien u.a.: »Wo sollen wir denn hin? – Indische Bauern wehren sich gegen die Folgen der Marktöffnung« (DLF 2005), »Zwischen Shopping Mall und Kommunismus – Der indische Mittelstand und die Globalisierung« (SWR 2005).

Pressestimmen

»… eine eindrückliche Darstellung eines anderen, ebenfalls sehr realen Indiens ….«
Südasien-Informationsnetz e.V.

»… bildet … einen Kontrast zum Mainstream der derzeitigen Indien-Berichterstattung.«
die tageszeitung

»… bietet authentische Einblicke in den Überlebenskampf in einem Schwellenland und eine Bewegung, die sich gegen das herrschende Modell der Globalisierung wehrt.«
Raphaela Kula, Neues Deutschland

»… Verzichtet … darauf, in dieser Debatte Stellung zu beziehen, sondern lässt seine Gesprächspartner zu Wort kommen.«
Matthias Becker, Freitag

»… Gewähren einen guten Einblick in eine Vielgestaltigkeit von Widerständigkeit und Organisationsformen ….«
Jürgen Weber, analyse und kritik 

»Ein höchst informatives Buch ….«
Gegenwind

»… bietet einen … punktuellen Einblick in die Diskussionen indischer sozialer Bewegungen.«
Sal Macis, graswurzelrevolution 

»… ausführlich recherchiert, … eine wichtige Informationsquelle.«
Stattzeitung

»… eine gute Einführung – zum Weiterlesen. … Vortrefflich gelungen.«
Gabriele Rohmann, Forschungsjournal 

Leseprobe

Auszüge

Armut, Konsum und Kommunismus

Mehr als sechs Prozent Wachstum in den kommenden Jahren prognostizieren Wirtschaftswissenschaftler für Indien. Die indische Regierung hofft sogar auf ein durchschnittliches Wachstum von zehn Prozent. Besonders in der Softwareindustrie und im Dienstleistungssektor entstehen neue Arbeitsplätze. Dort unter anderem arbeiten die 100 bis 200 Millionen Konsumenten, die sich am Lebensstandard des Westens orientieren. Etwa zehn Millionen verdienen mehr als 1000 Euro monatlich und haben ihn tatsächlich erreicht. Exporteure in den USA, Europa und Asien reiben sich die Hände und sehen neue Absatzmärkte für Kühlschränke, Waschmaschinen, Autos, Versicherungen und Luxusgüter. Internationale Investoren versprechen sich so genannte komparative Kostenvorteile von vergleichsweise billigen, aber hoch qualifizierten Arbeitskräften, von niedrigen Umwelt- und Sozialstandards und verlagern ganze Produktionsstandorte nach Indien.

Aber auch die knapp 750 Millionen Inder, die von der Landwirtschaft leben, sollen, so die Theorie, von der Marktöffnung Anfang der 90er Jahre profitieren können. Vor allem mit den Errungenschaften westlicher Agrartechnik – zum Beispiel mit den Produkten der Gentechnik – soll ihnen ein Weg aus der Armut gewiesen werden. Diese Bilder dominieren heute die Vorstellungen über Indien – besonders im Ausland.

Inseln des Wohlstands

Eine sechsspurige Straße führt von Neu Delhi nach Gurgaon, vorbei am internationalen Flughafen. In den vergangenen zehn Jahren ist Gurgaon regelrecht explodiert, die Einwohnerzahl hat sich vervierfacht: Mehr als 100.000 Menschen leben heute hier, vor allem Mittelständler, die dem Moloch Delhi entflohen sind, viele in 20-stöckigen Apartmenthäusern, inklusive Tennisplatz und Swimmingpool. Ihre Arbeitsstätten liegen gleich nebenan. Coca-Cola, Nokia, Hewlett Packard, General Motors, Nestlé, American Express, die Citibank und der Telefonkonzern Ericsson haben sich in Gurgaon niedergelassen. Hinter den glitzernden Glasfassaden ihrer Geschäftshäuser sind die Mitarbeiter und Konzernvorstände vom Elend der Straße gut abgeschirmt.

Auf staubigen Verkehrsinseln in Gurgaon hausen zwischen den Blechlawinen, die sich während der Rushhour im Schneckentempo fortbewegen, zerlumpte Kinder mit ihren Müttern. Sie betteln bei den Insassen der vorbeifahrenden Autos um etwas Geld. Ihre Gesichter sind fast schwarz vom Staub und dem Dieselruß, dem sie fortwährend ausgesetzt sind. Vor den Moskitoschwärmen, die mit Anbruch der Dämmerung Menschen und Tiere befallen, können sie sich in ihren Behausungen nicht schützen. Auf der Verkehrsinsel steht eine einfache Holzkonstruktion, deren Wände und Dächer notdürftig mit blauen Plastikplanen bedeckt sind.

Hundert Meter weiter beginnt die Freizeitmeile, ein Einkaufszentrum reiht sich an das andere. Sie heißen Plaza Mall, City Centre, Metropolitan und Sahara. Die indische DLF-Group plant hier die größte Shoppingmall Indiens mit mehr als 37.000 Quadratmetern Verkaufsfläche und 10.000 Parkplätzen. Vor dem City Centre, einer Beton-Glaskonstruktion, die ebenfalls der DLF-Group gehört, sind private Sicherheitskräfte postiert, die auch die umliegenden Parkplätze überwachen. Für die Bettler von der Straße ist im City Centre kein Platz. Im Inneren sieht es wie in jeder anderen Shoppingmall der Welt aus, ausgenommen einer Hand voll Geschäfte, in denen indische Stoffe, Saris und Dhotis verkauft werden. Ansonsten das übliche Bild: Benetton, Adidas, Reebock und Nike, auf den langen Gängen der Shoppingmall findet man alle paar Meter einen Cola-Automaten und um die Ecke gibt es einen McDonald’s.

Sogar ein italienisches Lederwarengeschäft befindet sich auf der ersten Hochebene. Bei „Da Milano” gibt es Handtaschen für 3000 Rupien (50 Euro), Lederjacken für 20.000 und Ledertaschen für 6000. Unter 500 Rupien, knapp neun Euro für einen Gürtel, ist hier nichts zu haben. Das sind etwa 10 vollwertige Mahlzeiten in einem indischen Restaurant.

Gurgaon und andere Vorstädte von Millionenmetropolen, ob von Neu Delhi, Haiderabad oder Bangalore, gelten als Insignien des aufstrebenden Indiens. Diese Orte symbolisieren aber knapp 60 Jahre nach seiner Unabhängigkeit auch die Widersprüche des zeitgenössischen Indiens: Auf der einen Seite bittere Armut, auf der anderen Seite Konsumtempel für die neue Mittelschicht.

Ihre Orientierung an westlichen Wert- und Konsumvorstellungen entspricht den Bemühungen der ehemaligen britischen Kolonialmacht, die sich „eine Klasse” heranziehen wollte, so der britische Historiker Lord Macaulay 1834 in einem Memorandum, „die als Mittler zwischen uns und den von uns regierten Millionen fungieren kann – indisch in Abstammung und Hautfarbe, doch englisch in Geschmack, Anschauung, Moral und Geist”. Die Masse der Inder sollte vor allem als billige Produzenten und Arbeitskräfte zur Verfügung stehen und bräuchte keine Bildung, meinte Lord Macaulay, der damals als Kolonialbeamter in Indien arbeitete.

Aber ihre Rolle als Mittler können diese Inder heute ebenso wenig überzeugend spielen wie damals. Denn der „trickle down”-Effekt, die Annahme, dass vom Wohlstand auch etwas für die armen Bevölkerungsschichten durchsickert, also die zentrale These, auf der die Heilsversprechen des heutigen globalen Wirtschaftssystems beruhen, funktioniert in Indien ebenso wenig wie in anderen Ländern. Der Graben zwischen Arm und Reich wird tiefer und tiefer. Während sich die gehobene Mittelschicht und die Oberschicht immer mehr aus dem übrigen sozialen und nationalen Kontext herauslösen, sich als Bestandteil der internationalen, globalen Elite empfinden, wächst in den Slums der Großstädte, der einfachen Mittelschicht und ganz besonders unter der Landbevölkerung der Unmut über die jüngsten Entwicklungen.

Weder der Großteil der Landbevölkerung noch die Mehrheit der Regierungsbeamten und Angestellten im öffentlichen Dienst zählen zu den Nutznießern (siehe Kapitel I). Das sind weit mehr als zwei Drittel der indischen Bevölkerung. Viele Inder sind mittlerweile hoch verschuldet und bangen um ihre Existenz. In ländlichen Regionen nehmen sich jährlich viele tausend Bauern aus Verzweiflung das Leben. In zahlreichen Dörfern und Städten regt sich aber auch Widerstand. Bauern besinnen sich auf traditionelle, biologische Anbaumethoden, die eine weit gehende Unabhängigkeit von der Agrarindustrie ermöglichen (siehe Kapitel I, II, III und IV). Gewerkschaften protestieren und streiken gegen geplante Privatisierungen und so genannte Rationalisierungen. Nichtregierungsorganisationen (non-governmental organizations = NGOs) und soziale Bewegungen rufen in landesweiten Kampagnen zum Boykott multinationaler Konzerne auf und maoistische Gruppen setzen auf den bewaffneten Kampf.

In diesem Buch kommen Vertreterinnen und Vertreter von Basisbewegungen, Gewerkschaften, NGOs, linken Parteien und Organisationen zu Wort. Sie berichten von den Entwicklungen der vergangenen 15 Jahre, analysieren die Hintergründe und die Erblast von Kolonialismus und Postkolonialismus. Die Ende 2004 geführten Interviews geben Einblick in verschiedene Formen des Widerstands und berichten über die internationale Zusammenarbeit im Rahmen der Sozialforen. Das Bild der Gesprächspartner von Indien und seinen Perspektiven steht im scharfen Kontrast zu dem der globalen Elite und ihren Multiplikatoren in Medien, Politik und Wissenschaft.

Gandhi, Marx, Mao und Ökologie

Gandhi, Marx und Mao prägen bis heute die kritischen Milieus Indiens. Viele der Basisbewegungen haben Anleihen aus verschiedenen theoretischen Ansätzen, außerdem sind vor allem sie die Träger eines ökologischen Bewusstseins, das sich auch in Indien immer weiter ausbreitet (siehe Kapitel I, II, III, IV, V). Die unzähligen kommunistischen, sozialistischen und maoistischen Organisationen, ihre Praxis und ideologischen Standpunkte kann dieses Buch nur anhand einzelner Beispiele beschreiben. Dabei spielen die maoistisch inspirierten Rebellionen der Naxaliten (siehe Kapitel VIII und IX) eine wichtige Rolle. Sie waren für eine ganze Generation kritischer Intellektueller in Indien ähnlich prägend wie hierzulande der Aufbruch der 68er-Bewegung.

Die kommunistischen Parteien in Indien wurden – auch wegen ihrer Distanz zu den Ostblockstaaten – vom Niedergang vieler Schwesterorganisationen im Europa der 90er Jahre weit gehend verschont (siehe Kapitel VI und VII) – mit Ausnahme der CPI. Bei den jüngsten Wahlen im Mai 2006 in fünf indischen Bundesstaaten schlugen die linken Parteien die der Zentralregierung nahe stehenden politischen Parteien und stellen die Regierung in zwei Bundesstaaten. Die Wahlbeteiligung war hoch, sie lag zwischen 70 und 80 Prozent. „Die Wahlen haben gezeigt, dass politische Inhalte viel wichtiger sind als Persönlichkeiten”, meint Praful Bidwai in Frontline, einem der renommiertesten indischen Nachrichtenmagazine. Die Wahlen hätten die Linksparteien mit den Themen öffentlicher Dienst, Landwirtschaft, Verschuldung, Erwerbslosigkeit und Außenpolitik gewonnen. Vor allem die an US-amerikanischen Interessen ausgerichtete Außenpolitik der indischen Regierung sei auf Ablehnung gestoßen.

Das deutsche Handelsblatt schrieb zwar auch von „Erdrutschsiegen der Linken in Kerala und Westbengalen”, behauptete jedoch, die Wahlen seien von lokalen Themen dominiert gewesen. Allerdings sei nun zu befürchten, dass die „Wirtschaftsreformen” durch den gestärkten Einfluss der Kommunisten auch bei der Zentralregierung schwerer durchzusetzen seien, weil diese auf die Stimmen der Linken angewiesen ist. Die Regierung in Neu Delhi will z.B. das Arbeitsrecht „lockern”. Sie will Auslandsinvestitionen in Supermarktketten erlauben – darauf dringt etwa der Metro-Konzern, oder die Pensionsfonds für private Anbieter öffnen – davon verspricht sich etwa die deutsche Allianz AG lukrative Geschäfte. Ob diese Pläne tatsächlich mit dem Veto der Kommunisten auf Eis gelegt werden, hängt vor allem von internen Auseinandersetzungen der Kommunistischen Partei ab. Denn Westbengalens kommunistischer Ministerpräsident Buddhadeb Bhattacharjee hat die Wahlen auch mit den Stimmen aus der Mittelschicht gewonnen, die vom Wirtschaftsboom profitiert. Er interpretiert seinen Sieg als „Mandat für Reformen”.

Doch die Auslandsinvestitionen, auf die die indischen Eliten setzen, könnten sich als geborgter Wachstumsschub entpuppen. Einige internationale Unternehmen suchen mittlerweile nach „alternativen Standorten”, zum Beispiel in Osteuropa und China. „Indien wird langsam zu teuer”, so der SAP-Konzernchef Henning Kagermann. Vor allem höher qualifizierte Berufe wie Ingenieure in den Ballungsräumen der Hochtechnologie, zum Beispiel in Bangalore, haben sich für indische Verhältnisse stark verteuert, denn die Zahl der Unternehmen, die um diese Arbeitskräfte werben, nimmt ständig zu.

Richtungsentscheidung in Indien

In Indien geht es um die künftige Entwicklungsrichtung, ebenso wie in anderen Schwellenländern, ob Brasilien, Chile oder Venezuela. Setzt sich langfristig ein Modell durch, das sich am westlichen Konkurrenzprinzip und Konsumprinzip orientiert, sind weitere soziale und ökologische Katastrophen programmiert. Nicht einmal die Hälfte des Milliardenvolkes wird vom Wirtschaftswachstum profitieren. Der Bevölkerungsmehrheit bleibt im besten Fall die Rolle als globaler Müllentsorger, zum Beispiel von Asbestschiffen, die Hilfsarbeiter ohne Schutzkleidung an der indischen Westküste abwracken, oder von E-Schrott, ausgedienten Computern, Bildschirmen und Mobiltelefonen, die aus den USA, Japan oder der EU nach Indien verfrachtet werden.

Die Stimmen derjenigen, die in diesem Buch zu Wort kommen, fühlen sich nicht dem Prinzip der Konkurrenz, sondern dem der Solidarität verpflichtet. Sie sind sich weit gehend einig in der Kritik der neoliberalen Entwicklungen in Indien, unterscheiden sich zum Teil aber in ihren Vorstellungen, welcher Weg denn zu einer solidarischen Gesellschaft führt. Von ihrer Fähigkeit, in Indien eine wirkungsvolle Alternative zur kapitalistischen Wirtschaftsform – und der ihr immanenten sozialen, kulturellen und ökologischen Zerstörung – aufzubauen, wird viel abhängen. Nicht nur in Indien.