In seiner Gefängniszelle auf der Teufelsinsel vor der Küste Dschibutis hat Dschamal, eingekerkert als islamistischer Terrorist, von der Rückkehr seines Zwillingsbruders Dschibril in seine alte Heimat erfahren. Er verfolgt ihn in Gedanken, lässt ihn beschatten, zieht eine Schlinge um ihn. Dschibril ist in Kanada ein neuer Mensch geworden, das Land seiner Kindheit ist für ihn nur noch fremd und staubig. Als Angestellter der Informationsagentur »Adorno Location Scouting« muss er für einige Tage nach Dschibuti zurückkehren: Frankreich, die USA und Dubai machen einander das Stück basaltener Erde an der »Tor der Tränen« genannten Meerenge streitig. Als Dschibril in Dschibuti ist, reißen alte Wunden wieder auf, die Geister seiner Familie verfolgen ihn, sein Rechercheauftrag kommt nicht recht voran. Jeden Tag irrt er ein wenig weiter auf den gefährlichen Pfaden der Erinnerung. Beide Brüder schreiben ein Tagebuch, der eine folgt der islamistischen Weltsicht, der andere der der westlichen Moderne. Im gedanklichen Wechselspiel der Brüder spiegelt sich die tiefe Zerrissenheit der Protagonisten und ihrer Beziehung zueinander. Heimat, Exil, Erinnerung sind die Themen dieses sprachmächtigen Romans.
Die Übersetzung aus dem Französischen wurde unterstützt durch:
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Autor

Abdourahman A Waberi
Abdourahman A. Waberi wurde 1965 in Dschibuti geboren. Nach seinem Studium der englischen Literatur lehrt er heute als Professor am Wellesley-College nahe Boston; von 2006-07 war er Gast des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Berlin. Waberi gilt als Nationalschriftsteller Dschibutis. Sein Roman Cahier nomade wurde mit dem »Grand prix littéraire d’Afrique Noire« ausgezeichnet. Auf Deutsch erschienen von Waberi bisher Die Legende von der Nomadensonne und Die Schädelernte.
Waberis Werke wurden in mehr als acht Länder verkauft und die Zeitschrift Lire zählt ihn zu den 50 wichtigsten und einflussreichsten zeitgenössischen Autoren.
Mehr Informationen zum Autor: www.abdourahmanwaberi.com
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Mein neues Notizbuch ist noch ganz leer, oder fast, bis auf ein paar geothermische Betrachtungen. Ich sollte aktiver werden. Entschiedener. Ich habe keine Minute zu verlieren, wenn ich meinen Bericht fristgemäß abgeben will. Stattdessen stochere ich im Nebel herum. Schlimmer noch, ich verharre in Lethargie.
Meine kleine Stimme aus der Kindheit führt mich auf ein schlüpfriges Terrain, wo das Gestern und das Anderswo unlösbar miteinander verwoben sind. Ich bin unentschlossen und gleichzeitig voller Furcht. Ich habe Angst, alte Wunden wieder aufzureißen. Ich weiß sehr wohl, dass mich an jeder Straßenecke noch aufwühlendere Enttäuschungen und Schmerzen aus Kindertagen erwarten.
Meine kleine Stimme von damals zappelt vor Ungeduld. Sie füllt mich jetzt ganz aus und ich spüre, wie sie in mir widerhallt, als sie plötzlich von der sandrauen Stimme meines Großvaters Assod übertönt wird, die über die Felsen der Zeit hinwegfegt. Mit einem Mal fühle ich mich zur mütterlichen Familie meines Großvaters versetzt. Einer Familie, die sich seit mehreren Generationen in der Bucht von Zeilah niedergelassen hatte. Zeilah? Eine Stadt voller Geschichte und voller Missverständnisse, von der mir mein Großvater oft erzählte.

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