Der falsche Inder

Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis 2010

Roman

Originalveröffentlichung
Gebunden mit Schutzumschlag,
160 Seiten

Erschienen Ende August 2008

18,00 

Ein geheimnisvolles arabisches Manuskript im ICE Berlin-München, das niemandem zu gehören scheint und worin acht Mal auf verschiedene Weise die Lebensgeschichte desjenigen erzählt wird, der es zufällig findet und liest.
Dieses Romandebüt handelt von der Flucht eines jungen Irakers, der unter Saddam Hussein im Gefängnis saß und vor Krieg und Unterdrückung flieht, sich in mehreren Ländern als Hauslehrer, Gelegenheitsarbeiter, Kellner durchschlägt; der vom Unglück verfolgt scheint und doch immer wieder auf wundersame Weise gerettet wird. Auf seiner Reise durch Nordafrika und Europa trifft er viele andere Flüchtlinge aus aller Welt, die wie er auf der Suche nach einem Leben ohne Hunger und Krieg sind und dafür sehr viel opfern. Ihre Stimmen und Schicksale verbinden sich in Khiders Roman zu einem modernen realistischen Märchen.
Abbas Khider verbindet das Tragische mit dem Komischen, das Groteske mit dem Alltäglichen, die Exotik des Orients mit den Lebenserfahrungen eines Flüchtlings. Er beeindruckt durch seinen ungeschönten Blick und die Beiläufigkeit, mit der er vom Elend wie von Wundern erzählt.

Buchinfos

Originalveröffentlichung Gebunden mit Schutzumschlag, 160 Seiten

Autor

Abbas Khider © Jacob Steden

Abbas Khider © Jacob Steden

Abbas Khider wurde 1973 in Bagdad geboren. 1996 floh er nach einer Verurteilung aus »politischen Gründen« und einer zweijährigen Gefängnisstrafe aus dem Irak. Von 1996 bis 1999 hielt er sich als illegaler Flüchtling in verschiedenen Ländern auf, seit 2000 lebt er in Deutschland. Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft in München und Potsdam. Lyrik in verschiedenen Publikationen.
Bei Edition Nautilus erschienen die Romane Der falsche Inder (2008), Die Orangen des Präsidenten (2011) und Brief in die Auberginenrepublik (2013). Für diese Werke wurde Abbas Khider vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste Berlin 2009, dem Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis 2010, dem Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil 2013 und dem Nelly Sachs Preis 2013.

Pressestimmen

»… ein außergewöhnlicher Roman.«
Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung

»… ebenso präzise wie entlarvend.«
Dominik Schweighofer, Süddeutsche Zeitung

»… ein künstlerisches Kleinod.«
Renée Zucker, rbb  info radio

»Abbas Khider ist Meister einer grotesken Komik.«
Evi Chatzi, SWR International

»Eine Geschichte voller Lebenslust.«
Birgit Eckelt, BR Kulturmagazin Puzzle

»Ein literarisches Kunstwerk.«
Maria Panzer, Lesart 

»… poetisch und voller wunderbarer Ereignisse.«
Martina Sulner, Hannoversche Allgemeine Zeitung

»… genial fabuliert.«
In München, Nr. 14

»Eine sehr lohnende Lektüre.«
Bettina Kraemer, Buch-/Medienprofile

Leseprobe

Möglicherweise meines babylonischen Blutes wegen, begann ich früh, an die verschiedensten Wände zu schmieren. Nicht etwa, um die Sprache zu schützen, vielmehr um die älteren Menschen zu ärgern. Damals kannte ich noch nicht die Verse von Heinrich Heine: »Und schrieb und schrieb an weißer Wand, Buchstaben von Feuer und schrieb und schwand.« Und trotzdem schrieb und schwand ich.

Während meiner Mittelschulzeit verzierte ich die Wände der Schule mit provozierenden Unanständigkeiten in Kreide: »Der Schuldirektor ist ein Arschloch«. »Der Literaturlehrer vögelt die Putzfrau der Schule«. »Der Imam ist schwul«. Oder: »Der Präsident fickt alle«. Jedes Mal beobachtete ich genüsslich, wie Lehrer, Polizei und Regierungsbeamte tagelang und fieberhaft die Schule nach Verdächtigen absuchten.

Das war mein Spiel. Aber als ich es eine Zeit lang weitergespielt hatte, begann ein trauriges Kapitel. Die Regierung ließ eine ganze Menge junger Burschen aus unserem Viertel festnehmen, die sie als gefährlich oder verdächtig einstufte. Die Burschen tauchten nie wieder auf. Am Anfang dachte ich, die kämen schon wieder; aber dann ging das Gerücht, sie hätten unter der Folter zugegeben, die Urheber dieser Sprüche gewesen zu sein. Seitdem habe ich keinen einzigen Satz mehr an die Wand irgendeiner Schule geschrieben. Bis heute plagt mich das schlechte Gewissen, denn schließlich war ich der Grund, weshalb diese jungen Burschen ihr Dasein hinter Gittern fristen mussten.

Möglicherweise hatte das Schicksal dasselbe Spiel auch mit mir gespielt. Mit neunzehn Jahren wurde ich aus einem ähnlichen Grund ins Gefängnis gesteckt. Dort gab es unzählige Wände, die ich vollschreiben konnte. Eigentlich gab es nur Wände. Fenster war ein Fremdwort. Wie Sonne und Frauen. Man konnte nur erahnen, dass es irgendwo da draußen Sonne geben musste.

Auf dieser dunklen Seite der Erde habe ich den ersten Vers gelesen. Er stand in meiner ersten Zelle an der Wand: »Das Gefängnis ist für mich eine Ehre, die Fessel ein Fußband und der Galgen die Schaukel der Helden.«

Sein Verfasser musste jede Hoffnung schon verloren haben. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Damals hatte ich keineswegs die Absicht, als Held am Galgen zu enden. Nach einem Jahr schrieb ich denselben Vers in einer anderen Zelle und dachte mir nichts dabei. An den Wänden stand einfach alles geschrieben. Man konnte viel Zeit damit verbringen, die Weltanschauung einzelner Gefangener zu erkunden, ebenso ihre ethnische oder religiöse Zugehörigkeit.

»Arbeiter der Welt, vereinigt euch!« – Das war ein Kommunist. »Kurdistan soll frei sein!« – Ein Kurde. »Gott schütze die Gläubigen!« – Ein Religiöser. »Komm, Heiliger Al-Mahdi, rette die Erde!« – Ein Schiit. »Ich will zu meiner Mama.« – Einer wie ich, der keine Ahnung hatte, warum er da war.

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