Die Auswanderer (Sonderausgabe)

Roman

Mit einem Nachwort von Uwe Timm

Sonderausgabe
Broschur, 256 Seiten

Erschienen Juni 2007

978-3-89401-560-2

16,90 

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Mehr als 30 Millionen Menschen aus ganz Europa wanderten zwischen 1890 und 1920 in die neue Welt aus. Gerd Fuchs erzählt einige fiktive Lebensgeschichten und verknüpft sie zu einem atmosphärisch dichten und aufwühlenden Roman.

Unter den Amerika-Auswanderern Ende des 19. Jahrhunderts sind der Uhrmacher Simon Kantor mit seiner Frau Ruth und dem neunjährigen Sohn Daniel, die in letzter Sekunde einem Pogrom in Russland entkommen sind; der Geschichtenerzähler und HAPAG-Werber Tatlin, der flüchtigen Rekruten zu falschen Papieren verholfen hat und deswegen selbst nach Amerika flieht; der Hamburger Werftarbeitersohn Klaus Groth, der nach seiner Militärzeit nach Hamburg zurückkehrt; der frisch examinierte Arzt Albert Werth, Spross einer alten Sephardenfamilie, der eine aussichtsreiche Heirat mit einer Bankierstochter ausschlägt und als Schiffsarzt anheuert, oder Alma Laufer, eine Ordensschwester, die in Südwestafrika Missionarin gewesen ist. Sie alle treffen 1892, im Jahr der Cholera-Epidemie, in Hamburg zusammen. Gemeinsam ist ihnen eine ungewisse Zukunft und die bloße Hoffnung auf ein besseres Leben anderswo.

Gerd Fuchs hat die Schicksale seiner Helden in einem opulenten Roman miteinander verknüpft und erzählt ihre Geschichten bis zur Ankunft des Passagierdampfers Saxonia in Ellis Island vor New York.

Hören Sie hier den Ausschnitt einer Lesung von Cornelia Schramm, die anlässlich Gerd Fuchs 80. Geburtstag im Hamburger GOLEM stattfand.

Buchinfos

Sonderausgabe Broschur, 256 Seiten

Autor

Gerd Fuchs © Detlef Grumbach

Gerd Fuchs © Detlef Grumbach

Gerd Fuchs, * 14. September 1932 in Nonnweiler/Saar, † 13. April 2016 in Hamburg. Ab 1964 war er journalistisch tätig, zunächst als Feuilleton-Redakteur bei der Welt, ab 1967 als Kultur-Redakteur beim Spiegel und später als freier Mitarbeiter bei der konkret. Seit 1968 arbeitete er als freiberuflicher Schriftsteller und Lektor. Er war Mitglied des deutschen PEN und veröffentlichte zahlreiche Romane. Gerd Fuchs wurde u.a. mit dem Förderpreis des Lessing-Preises, dem Kunstpreis der Stadt Saarbrücken und dem Italo-Svevo-Preis ausgezeichnet.

»Fuchs wählt für seine Prosa stets einen gesellschaftlichen Ausschnitt, in dem Menschen in Bewegung, in Verunsicherung, auf der Suche sind.« Uwe Naumann

Pressestimmen

»Sprachlich genau, mit unbeirrbarer Gründlichkeit, mit angelsächsischem Humor, erzählt er von Krieg und Nachkrieg, von Zerstörung und Wiederaufbau, von Verdrängung und Aufklärung in der Provinz (…) Gerd Fuchs ist ein Chronist des Alltags der deutschen Geschichte.«

Uwe Timm in seiner Preisrede

»Es gelingt dem Autor, an eine Tradition des Schreibens anzuknüpfen, die hierzulande ausgemerzt und ins Exil vertrieben wurde, obwohl und weil sie mit zum Fruchtbarsten gehört, was im letzten Jahrhundert auf Deutsch zu Papier gebracht wurde. So sind ›Die Auswanderer‹ auch eine literarische Hommage an die, die gehen mussten. Oder eine Art Heimkehr.«
Christoph Ernst, die tageszeitung

»Nicht wissen, wo man hingehört, Weggehen, Auswandern aus großer Not, mit großen Hoffnungen – schon immer ist dieses Motiv präsent im Werk diese Autors. Fuchs hat sich immer als politischer Schriftsteller verstanden und greift die Form des historischen Roman auf, um das Hier und Heute schärfer in den Blick zu bekommen.«
Detlef Grumbach, Bücherlese im Saarländischen Rundfunk

»Obwohl Fuchs (…) auch die Not verhandelt, die Menschen zur Flucht zwingt, macht er doch keine seiner Personen zum Opfer. Vielmehr setzt er jede von ihnen ins Recht, indem er ihre Gründe auszuwandern vieldimensional für uns auffächert. Und montiert – zu einem Stück gründlich recherchierter Geschichte ,von unten’.«
Christiane Müller-Lobeck, die tageszeitung, Hamburg

»Gerd Fuchs zählt zu den wenigen Autoren, die sich historische Stoffe erarbeiten und sie lebendig werden lassen durch ein Ensemble von plastisch gezeichneten Figuren. Dabei hat Fuchs die politischen und sozialen Lebensumstände im Hamburg des wilhelminischen Kaiserreichs ebenso ausgiebig recherchiert wie die Geschichte und Motive der europäischen Auswanderer, den Ver-lauf der Hamburger Choleraepidemie (…) oder den Bau der Hamburger Speicherstadt.«
Stephan Reinhardt, Hessischer Rundfunk

Leseprobe

Und wann fahren wir? fragt Daniel.
Morgen. Und zur Schule gehst du auch nicht mehr. Du hilfst Mama beim Packen.
Simon sucht als erstes sein Werkzeug zusammen. Schon mit vierzehn hatte er Uhren repariert. Aus Langeweile hatte er vor einiger Zeit mit Goldschmiedearbeiten begonnen. Natürlich hatte er kein Gold zur Verfügung oder Silber, wohl aber Kupfer, Zinkblech, Eisen. Er hatte stilisierte Ranken und Blüten in Kupferblech getrieben, komplizierte Ornamente, Früchte. Der Mensch, der sich schmückt, ist sich etwas wert, hatte er gedacht. Er hat Freude an sich.
Aus Pforzheim in Deutschland ließ er sich einen Katalog kommen und bestellte einen kleinen Vorrat an billigen Ringen, Ketten, Anhängern und Ohrringen, die er außer den Uhren ebenfalls zu verkaufen begann. Wenn die Burschen mit ihren Mädchen kamen und ihnen einen Ring oder eine Kette kauften, dann beobachtete er immer die Mädchen, das Lächeln, das erschien, wenn sie den Ring überstreiften und ihre Hand betrachteten. Und er sah, was mit ihren Augen vorging, wenn sie vor dem Spiegel das Haar zurückwarfen und einen Ohrring anprobierten. Schließlich begannen ihn Steine zu interessieren, Edelsteine, seltene Steine, geheimnisvolle, in denen sich das Licht in ein rotes oder blaues oder weißes Glühen verwandelte. Aber das wusste er nur aus dem Katalog. Einen wirklichen Edelstein hatte er noch nie gesehen.
Immer noch spürt er die Angst, und er merkt, dass sie immer in ihm gewesen ist, steigend und fallend wie altes, schwarzes Grundwasser in einem Keller. Das Packen hilft gegen sie. Ich bin kein Schaf, das sich abschlachten lässt, denkt er. Ich tue das Einzige, das mir bleibt. Aber das tue ich. Obwohl ich nicht weiß, ob das nicht auch sinnlos ist.
Die Zeitung hatte gehetzt. Die jüdische Frage, die jüdische Gefahr, die jüdische Verschwörung. Ritualmorde begingen sie, denn sie brauchten das Christenblut, um ihre Mazza zu backen, die sie zu Pessach aßen. Angeblich hatte der Zar ein geheimes Dekret erlassen, das erlaubte, mit den Juden zu verfahren, wie man wolle.
Zu der Angst vor den Juden, die sich mit den Gerüchten ausgebreitet hatte, war etwas Neues hinzugekommen. Der Mord war erlaubt. Die Polizei sah zu, ohne einzuschreiten.

Er legt die Taschenuhren (wenige) und die Wecker zu dem Werkzeug. Den Schmuck schlägt er in ein Tuch ein und tut ihn dazu, billige Ringe, ein paar dünne, silberne Halsketten, zwei Granatbroschen.

Er nimmt die Wanduhren herunter, schraubt die Werke ab und legt sie in den Koffer. Dann nimmt er die Gehäuse auseinander und legt sie dazu. Das ist alles, was er besitzt, und das Haus. Die Werkstatt steht wie geplündert.

Auf der Straße ist es unruhig. Auch heute hat sich kein Kunde gezeigt. Weder er noch Ruth noch Daniel haben das Haus verlassen. Von den Türstöcken nimmt er die im oberen Drittel angebrachte, schräg ins Innere des Zimmers gerichtete Mesusa ab. Aus dem Metallröhrchen zieht er den Pergamentstreifen mit den vorgeschriebenen Worten aus dem 5. Buch Mose. Dem Betrachter sichtbar ist nur die Rückseite des Pergaments mit dem Wort Schaddai, Allmächtiger. Er glättet die Pergamentstreifen, faltet sie und legt sie in den Koffer. Jetzt sind sie bereit. Daniel schläft in seinen Kleidern. Vom Wirtshaus dringen Gejohle und Gelächter herüber. Vor ihnen liegt die Nacht.

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