Und wann fahren wir? fragt Daniel.
Morgen. Und zur Schule gehst du auch nicht mehr. Du hilfst Mama beim Packen.
Simon sucht als erstes sein Werkzeug zusammen. Schon mit vierzehn hatte er Uhren repariert. Aus Langeweile hatte er vor einiger Zeit mit Goldschmiedearbeiten begonnen. Natürlich hatte er kein Gold zur Verfügung oder Silber, wohl aber Kupfer, Zinkblech, Eisen. Er hatte stilisierte Ranken und Blüten in Kupferblech getrieben, komplizierte Ornamente, Früchte. Der Mensch, der sich schmückt, ist sich etwas wert, hatte er gedacht. Er hat Freude an sich.
Aus Pforzheim in Deutschland ließ er sich einen Katalog kommen und bestellte einen kleinen Vorrat an billigen Ringen, Ketten, Anhängern und Ohrringen, die er außer den Uhren ebenfalls zu verkaufen begann. Wenn die Burschen mit ihren Mädchen kamen und ihnen einen Ring oder eine Kette kauften, dann beobachtete er immer die Mädchen, das Lächeln, das erschien, wenn sie den Ring überstreiften und ihre Hand betrachteten. Und er sah, was mit ihren Augen vorging, wenn sie vor dem Spiegel das Haar zurückwarfen und einen Ohrring anprobierten. Schließlich begannen ihn Steine zu interessieren, Edelsteine, seltene Steine, geheimnisvolle, in denen sich das Licht in ein rotes oder blaues oder weißes Glühen verwandelte. Aber das wusste er nur aus dem Katalog. Einen wirklichen Edelstein hatte er noch nie gesehen.
Immer noch spürt er die Angst, und er merkt, dass sie immer in ihm gewesen ist, steigend und fallend wie altes, schwarzes Grundwasser in einem Keller. Das Packen hilft gegen sie. Ich bin kein Schaf, das sich abschlachten lässt, denkt er. Ich tue das Einzige, das mir bleibt. Aber das tue ich. Obwohl ich nicht weiß, ob das nicht auch sinnlos ist.
Die Zeitung hatte gehetzt. Die jüdische Frage, die jüdische Gefahr, die jüdische Verschwörung. Ritualmorde begingen sie, denn sie brauchten das Christenblut, um ihre Mazza zu backen, die sie zu Pessach aßen. Angeblich hatte der Zar ein geheimes Dekret erlassen, das erlaubte, mit den Juden zu verfahren, wie man wolle.
Zu der Angst vor den Juden, die sich mit den Gerüchten ausgebreitet hatte, war etwas Neues hinzugekommen. Der Mord war erlaubt. Die Polizei sah zu, ohne einzuschreiten.
Er legt die Taschenuhren (wenige) und die Wecker zu dem Werkzeug. Den Schmuck schlägt er in ein Tuch ein und tut ihn dazu, billige Ringe, ein paar dünne, silberne Halsketten, zwei Granatbroschen.
Er nimmt die Wanduhren herunter, schraubt die Werke ab und legt sie in den Koffer. Dann nimmt er die Gehäuse auseinander und legt sie dazu. Das ist alles, was er besitzt, und das Haus. Die Werkstatt steht wie geplündert.
Auf der Straße ist es unruhig. Auch heute hat sich kein Kunde gezeigt. Weder er noch Ruth noch Daniel haben das Haus verlassen. Von den Türstöcken nimmt er die im oberen Drittel angebrachte, schräg ins Innere des Zimmers gerichtete Mesusa ab. Aus dem Metallröhrchen zieht er den Pergamentstreifen mit den vorgeschriebenen Worten aus dem 5. Buch Mose. Dem Betrachter sichtbar ist nur die Rückseite des Pergaments mit dem Wort Schaddai, Allmächtiger. Er glättet die Pergamentstreifen, faltet sie und legt sie in den Koffer. Jetzt sind sie bereit. Daniel schläft in seinen Kleidern. Vom Wirtshaus dringen Gejohle und Gelächter herüber. Vor ihnen liegt die Nacht.